„Vor dem Gesetz“ ist ein von Franz Kafka 1915 veröffentlichter Text, der auch als Türhüterlegende oder Türhüterparabel bekannt ist. In dem Text geht es um den Versuch eines Mannes vom Lande, in das „Gesetz“ zu gelangen. Der Mann erfährt von einem Türhüter, der vor der Tür steht, dass es möglich sei, zum Gesetz zu gelangen, aber nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Er wartet sein ganzes Leben darauf, dass ihm der Türhüter Einlass gewährt. Er versucht sogar, den Türhüter zu bestechen. Er bittet sogar die Flöhe im Pelzkragen des Türhüters, ihm zu helfen. Aber alles ist vergeblich.
Kurz bevor der Mann vom Lande stirbt, fragt er den Türhüter, warum in all den Jahren niemand außer ihm Einlass verlangt hat. Der Türhüter antwortet, dieser Eingang sei nur für ihn bestimmt gewesen. Er werde ihn jetzt schließen.
So komme ich mir vor, wenn ich Finanzbehörden bitte, Steuerbescheide zu begründen. Ich schreibe gegen eine Wand. Das letzte mir sehr präsente Beispiel betrifft eine Mandantin, die bis zu 2013 mit knapp über 1 % an einer GmbH & Co. KG („KG“) beteiligt war. Nach einer jahrelang dauernden Betriebsprüfung, an der die Mandantin nicht beteiligt war, erließ das Finanzamt für die Jahre 2009 bis 2014 Im Dezember 2024 geänderte Feststellungsbescheide. Vor ca. einem Jahr geriet die KG in Insolvenz. Die unserer Mandantin im Wege der Einzelbekanntgabe bekanntgegebenen Feststellungsbescheide für diese KG wichen erheblich von den vorausgegangenen Bescheiden ab. Die Rubrik „Erläuterungen“ zu den Bescheiden verwies lapidar auf den Bericht über die Betriebsprüfung.
Gegen die Bescheide legten wir Einspruch ein. Begründen konnten wir den Einspruch nicht; denn wir konnten und können bis heute mangels Begründung nicht prüfen, wie das Finanzamt die Änderungen in den Bescheiden begründen möchte.
Also haben wir jetzt, nach Erhalt der – nichtssagenden – Einspruchsentscheidung, in der dem Steuerpflichtigen völlig absurd mangelnde Begründung der Einsprüche vorgeworfen wurde, Klage erhoben.
Zur Erinnerung: Steuerbescheide sind zu begründen, soweit das zu ihrem Verständnis erforderlich ist (§ 121 Abs. 1 AO). Sehr gut bringt das Seer in Tipke / Kruse auf den Punkt:
„Die Begründung ist Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips (BVerfG v. 16.1.1957 – 1 BvR 253/56, BVerfGE 6, 32 [44 f.]; Kischel, Die Begründung [LitV], 64 ff.). Die Begründungspflicht steht im engen Zusammenhang mit dem auch europarechtlich durch Art. 41 II lit. c GrCh fundierten Recht auf Gehör (s. § 91 Rz. 1 ff., § 364 Rz. 1). Die Begründung hat aber auch darüber hinausgehende Zwecke oder Funktionen (ebenso Güroff in Gosch, § 121 Rz. 1): (Autor: Seer)2a–Im Vordergrund steht der Rechtsschutzzweck. Die Begründung soll vor allem sicherstellen, dass der Betroffene seinen Rechtsschutzanspruch (s. Art. 19 IV GG) wirklich nutzen kann. Das kann er nur, wenn er weiß, wie die Behörde ihren VA rechtfertigt, insb. auf welche Rechtsgrundlage sie ihn stützt (s.a. BVerfG v. 16.1.1957 – 1 BvR 253/56, BVerfGE 6, 32 [44]; BVerfG v. 29.10.1975 – 2 BvR 812/73, BVerfGE 40, 276 [286]; BVerfG v. 28.2.1979 – 2 BvR 84/79, BVerfGE 50, 287 [290]; BVerfG v. 12.7.1983 – 1 BvR 1470/82, BVerfGE 65, 76 ff.; BVerfG v. 5.11.1985 – 1 BvR 1434/83, BVerfGE 71, 122 [136] [allerdings durchweg zu Gerichtsentscheidungen]; zum VA s. BVerfG “
Tipke/Kruse, AO/FGO 2025, § 121 AO, Rn. 2
Angesichts dieser klaren Rechtslage ist die geradezu penetrante Verweigerungshaltung von Finanzbehörden besorgniserregend und erinnert stark an die Türhüterparabel.
Last modified: 23. Februar 2025