Digitale Datenverarbeitung trifft alte Bestandskraft – ein Case, der echte Aufmerksamkeit verdient.
1. Sachverhalt
Ein Ehepaar übermittelte im Rahmen der Einkommensteuererklärung 2017 die Renteneinkünfte vollständig an das Finanzamt – korrekt, sauber, pflichtgemäß. Trotzdem berücksichtigte das Finanzamt in dem Steuerbescheid vom 2. April 2019 diese Einkünfte nicht, da zu diesem Zeitpunkt noch keine elektronische Rentenbezugsmitteilung vorlag. Der Bescheid vom 2. April 2019 wurde bestandskräftig, er stand nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.
Erst am 6. Mai 2019 erhält das Finanzamt von der zuständigen Behörde dies Daten zu den Renteneinkünften, die bereits aus der Steuererklärung zu ersehen waren. Erst daraufhin erließ es am 16. Dezember 2020 einen Änderungsbescheid, jetzt mit den Renteneinkünften, und zwar zu Ungunsten der Steuerpflichtigen. Den Änderungsbescheid stützte das Finanzamt auf § 175 b AO. Dagegen gingen die Steuerpflichtigen vor. Sie hatten die Einkünfte in der Steuererklärung ja vollständig angegeben. Wenn das Finanzamt schlampig arbeitet und die Einkünfte nicht erfasst, darf das Finanzamt nicht einfach später ändern, so der nachvollziehbare Gedanke der Steuerpflichtigen.
2. Die Leitsätze – klar und rigoros
Der BFH stellte die folgenden Leitsätze auf:
- Eine Änderung nach § 175b Abs. 1 AO ist auch dann zulässig, wenn die übermittelten Daten erst nach Erlass des ursprünglichen Bescheids – erstmalig – an die Finanzbehörde gelangten.
- Es isrt unerheblich, ob der Inhalt der Daten dem Finanzamt zuvor bereits bekannt war – ausschlaggebend ist allein die spätere elektronische Übermittlung
3. Entscheidung – konsequent angewandt
Die Revision der Steuerpflichtigen scheiterte, ebenso wie Einspruch und Klage – der Änderungsbescheid vom 16. Dezember 2020 wurde rechtlich als verpflichtende Korrektur anerkannt. Das Finanzamt war nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, den materiell fehlerhaften ersten Steuerbescheid zu korrigieren. Überraschend allerdings: der ursprüngliche Bescheid war bereits bestandskräftig und enthielt keinen Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO). Dennoch ermöglicht § 175b AO die Korrektur – die Änderung sei zwingend im Interesse der materiellen Wahrheit und konnte, so der BFH, mit dieser Änderungsnorm auch durchgesetzt werden.
4. Begründung – Wortlaut, Systematik, Ratio
Aus Sicht des Gerichts lassen sich vier Argumentationsstränge festhalten:
- Wortlaut (§ 175b Abs. 1 AO): erfordert nur, dass übermittelte Daten nicht oder unzutreffend berücksichtigt wurden – unabhängig vom Zeitpunkt der Übermittlung.
- Entstehungsgeschichte: Nach § 10 Abs. 2a Satz 8 EStG a.F. war schon intendiert, dass die zeitliche Reihenfolge der Datenübermittlung unbeachtlich sei. Diese Logik übertrug sich in § 175b AO.
- Systematik und Normziel: § 175b AO ist Teil eines datengetriebenen Verfahrensrechts, das die Automatisierung honoriert und die materiell richtige Besteuerung ermöglicht – auch zuungunsten des Steuerpflichtigen, aber gleichermaßen zu seinen Gunsten.
- Bestandskraftprinzip bleibt subsidiär: Die Regelung hebt individuelle Fehler nicht auf, sondern priorisiert die materielle Wahrheit vor formaler Stabilität – kritisch für die Digitalisierungspraxis und kritisch in einem Rechtsstaat.
5. Bedeutung und Konsequenzen – keine Schönfärberei
- Digital Compliance: Ab 2017 ist jede rentenbezugs‑ oder vorsorgebezogene Mitteilung eine potenzielle Korrekturbasis nach § 175b AO – unabhängig vom Zeitpunkt der Übermittlung.
- Warnung an Steuerpflichtige: Auch bei vollständiger und korrekter Deklaration – liegen elektronische Daten später vor, ist eine Änderung nicht abwendbar.
- Advokat:innen-Perspektive: Gerade wenn der Steuerfall zugunsten der Mandantschaft berücksichtigt werden soll, empfiehlt sich der Eigenvorschlag zum Einspruch bzw. Remonstration – es ist nicht mehr Aufgabe des Finanzamts, alle Daten eigenständig zu (re‑)konstruieren.
- Digital Reality Check: Aus „Bestandskraft“ wird perspektivisch ein Instrument – § 175b AO als Schlüssel, nicht als Ausnahme. Caveat emptor – wer sich auf alte Bescheide verlässt, riskiert eine spätere Neubewertung.
Epilog – rückblickend und vorausschauend
Das BFH-Urteil X R 25/22 ist eine game‑changer‑Entscheidung. Es schafft Klarheit: Die steuerliche Automatisierung durch elektronische Mitteilungsflüsse hat Vorrang vor statischer Rechtskraft. Material Accounting beats procedural Stasis – so lautet die Devise.
Postulat: Wer digital versagt, bezahlt digital – und zwar auch nach Versteuerung. Verum est, aber auch: sic itur ad astra – auf dem Weg zu rechtsstaatlicher Transparenz durch technologische Entwicklung.
Bedenklich: wenn das Finanzamt ihm von Steuerpflichtigen in der Steuererklärung korrekt angegebenen Daten nicht in den Steuerbescheid übernimmt und damit schlampig gearbeitet, kann es diesen Fehler trotz Bestandskraft des Steuerbescheides bis zum Eintritt der Festsetzungsverjährung korrigieren. Wenn aber sie als Steuerpflichtiger bei Abgabe der Steuererklärung schlampig arbeiten und die Einkünfte nicht vollständig dem Finanzamt deklarieren, dann droht Ihnen mit Sicherheit ein Steuerstrafverfahren.
Quintessenz: quod licet Iovi, non licet bovi. Oder auf Deutsch: Wenn zwei das gleiche machen, ist es noch lange nicht dasselbe.
Last modified: 29. Juli 2025