Schwamb und Wiesinger haben in NJW 2025, 3033 einen für die Praxis hervorragend geeigneten Aufsatz zu Pflichtteilsansprüchen bei Schenkungen zu Lebzeiten geschrieben, der einmal mehr zeigt, dass blinder Aktionismus nur schadet. Die Autoren raten – zu Recht – dazu, die im Erbrecht teils sehr kniffligen Fragen erst sehr sorgfältig aufzuklären, zumal sich daraus oft auch prozessuale Besonderheiten ergeben.
Wir fassen die wesentlichen Inhalte und Ergebnisse dieses praxisnahen Aufsatzes hier zusammen:
Executive Summary
Wer Pflichtteilsansprüche nach einer lebzeitigen Schenkung geltend machen will, muss zunächst sorgfältig prüfen und exakt rechnen: Wie hoch ist der reale Nachlass? Welche Schenkungen sind ergänzungspflichtig und in welcher Höhe? Wie greift das Abschmelzungsmodell? Gibt es Ausnahmen bie dem Fristbeginn? Ohne diese Vorprüfung drohen Fehlbeträge, Verjährung und unnötige Verfahren. Das in der NJW 2025, 3033 eingangs skizzierte Beispiel zeigt: Die dogmatisch korrekte Reihenfolge der Berechnung entscheidet, ob ein Anspruch trägt – oder krachend scheitert.
Sachverhalt aus NJW 2025, 3033:
Der Erblasser hinterlässt Ehefrau und zwei erwachsene Söhne. Die Erbfolge richtet sich nach einem notariellen Erbvertrag. Danach wurde der Erblasser von seiner Ehefrau als Alleinerbin beerbt. Diese wurde zur befreiten Vorerbin bestimmt. Zum alleinigen Nacherben wurde Sohn 1 bestimmt. Sohn 2 soll laut Erbvertrag nach den gesetzlichen Bestimmungen pflichtteilsberechtigt sein.
Nach dem von der Alleinerbin erstellten Nachlassverzeichnis verfügte der Erblasser nicht über nennenswerte Vermögenswerte, so dass der Reinerlass des Nachlasses nahezu kein Vermögen aufwies. Allerdings verfügte der Erblasser über eine Teileigentumseinheit („TE”) und eine Wohneigentumseinheit („WE”). Diese hatte er Jahre zuvor in Miteigentumsanteile zu je 500/1000 aufteilen lassen. Über zehn Jahre vor seinem Tod hat der Erblasser 500/1000 an der WE als ehebedingte Zuwendung zum vorzeitigen Ausgleich des Zugewinns an seine Ehefrau übertragen. Ebenfalls über zehn Jahre vor seinem Tod hat der Erblasser 500/1000 an der TE schenkweise an Sohn 2 übertragen. Das erfolgte ohne Ausgleichsverpflichtung, wobei sich der Beschenkte die Zuwendung aber auf sein gesetzliches Pflichtteilsrecht anrechnen lassen muss. Die anderen 500/1000 an der TE hat der Erblasser etwa zwei Jahre vor seinem Tod seinem Sohn 1 geschenkt. Auch diese Schenkung sollte sich der Beschenkte auf seine Pflichtteilsansprüche anrechnen lassen müssen. Die Schenkungen erfolgten unter Nießbrauchsvorbehalt für den Erblasser, wobei dieser Nießbrauch im Falle des Vorversterbens des Erblassers im Todeszeitpunkt auf seine Ehefrau übergehen sollte. Im Todeszeitpunkt verfügte der Erblasser noch über 500/1000 an der WE. Etwa fünf Jahre vor seinem Tod hat der Erblasser einen fünfstelligen Geldbetrag an einen ehemaligen Mitarbeiter verschenkt.
Vor diesem Hintergrund fordert Sohn 2 von der Alleinerbin die Auszahlung eines Pflichtteilsanspruchs. Fraglich ist dabei, ob vor dem dargestellten Hintergrund überhaupt noch ein Auszahlungsanspruch besteht oder die lebzeitige Schenkung diesen bereits übersteigt.
1. Worum geht es – und was zeigt das Eingangsbeispiel?
Der Beitrag in der NJW 2025, 3033 veranschaulicht an einem prägnanten Beispiel die typischen Stellschrauben: Wer ist pflichtteilsberechtigt? Welche Schenkung ist berücksichtigungsfähig? Wie wird sie bewertet? Welcher Zeitraum (10‑Jahres‑Frist) ist einschlägig? Die Quintessenz: Nicht jede lebzeitige Zuwendung führt automatisch zu einer Ergänzung – und nicht in voller Höhe. Die Berechnung folgt einem strengen, mehrstufigen Prüfpfad.
2. Der Prüfpfad in der Praxis – Schritt für Schritt
Schritt 1: Pflichtteilsberechtigung und Erbfall
– Feststellen, ob eine Pflichtteilsberechtigung vorliegt (z. B. Abkömmlinge, Ehegatte, Eltern).
– Zeitpunkt des Erbfalls bestimmen; hieran knüpfen Fristen und Bewertungsstichtage an.
Schritt 2: Ausgangsnachlass ermitteln
– Aktiva/Passiva des Nachlasses sorgfältig inventarisieren.
– Der reale Reinnachlass bildet den Ausgangspunkt der Pflichtteilsquote.
Schritt 3: Ergänzungspflichtige Schenkungen identifizieren
– Welche Zuwendungen sind Schenkungen i. S. d. Pflichtteilsergänzung?
– Ausnahmen beachten (Anstandsschenkungen, Gelegenheitsgeschenke, entgeltliche Komponenten bei gemischter Schenkung).
– Vorsicht bei Übertragungen unter Vorbehalt (Nießbrauch/Wohnrecht): Sie wirken sich auf Fristlauf und Bewertung aus.
Schritt 4: 10‑Jahres‑Frist und Abschmelzungsmodell
– § 2325 BGB arbeitet mit einer zeitlichen Begrenzung: Schenkungen innerhalb von 10 Jahren vor dem Erbfall können zu berücksichtigen sein.
– Abschmelzung: Je weiter die Schenkung zurückliegt, desto geringer die Anrechnung (jährliche Reduktion).
– Sonderregeln bei Schenkungen unter Ehegatten und bei Vorbehalten im Blick behalten; so wie hier bei den vornbehaltenen Nießbräuchen (Fristbeginn kann sich verschieben).
Schritt 5: Bewertung der Schenkung
– Maßgeblich ist der Wert zum Schenkungszeitpunkt, ggf. mit Anpassungen; bei Vorbehalten ist deren wirtschaftlicher Wert abzuziehen.
– Gemischte Schenkung: Nur der unentgeltliche Anteil ist ergänzungspflichtig – sorgfältige Bewertung ist Pflicht.
Schritt 6: Fiktiver Nachlass und Quote
– Reeller Reinnachlass plus anzurechnende (abgeschmolzene) Schenkungswerte ergeben den fiktiven Nachlass.
– Pflichtteil = Quote (z. B. 1/2 des gesetzlichen Erbteils) vom fiktiven Nachlass; hiervon ist der reale Pflichtteil (ohne Ergänzung) abzuziehen → Ergänzungsbetrag.
Schritt 7: Gegen wen richtet sich der Anspruch?
– Primär gegen den Erben (Pflichtteilsergänzung); reicht der Nachlass nicht, kann – unter Voraussetzungen – ein Anspruch gegen den Beschenkten (§ 2329 BGB) folgen.
Schritt 8: Verjährung
– Regelmäßige Verjährung nach Kenntnisprinzip; Fristbeginn erfordert positive Kenntnis von Erbfall, Berechtigung und schenkungserheblichen Tatsachen.
– Frühzeitig Auskunftsansprüche sichern, um die Rechnung führen zu können.
3. Typische Fehlerquellen – was das Beispiel lehrt
• Zu früh geklagt: ohne belastbare Bewertung (z. B. Grundstückswert, Abzug Vorbehalte) scheitern Ansprüche am Beweis.
• Falscher Adressat: Ergänzung direkt gegen den Falschen (Beschenkten statt Erben).
• Abschmelzung ignoriert: Wer „brutto“ statt „abgeschmolzen“ rechnet, produziert Mondforderungen.
• Sonderregeln bei Ehegatten und beim Nießbrauch übersehen: Fristbeginn und Bewertung sind anders als bei Schenkungen an Dritte.
4. Praxisleitfaden (Checkliste)
1. Berechtigung und Erbfall klären.
2. Reinnachlass ermitteln.
3. Schenkungen (Art, Zeitpunkt, Vorbehalte, gemischt?) sichten.
4. Frist & Abschmelzung berechnen (Schenkungskette!).
5. Bewertung (Gutachten/Marktwert; Abzug Vorbehalte).
6. Fiktiver Nachlass bilden, Quote anwenden, Ergänzung errechnen.
7. Anspruchsrichtung festlegen (Erbe/Beschenkter, Rangfolge).
8. Verjährung und Auskunft sichern.
5. Fazit
Blinder Eifer schadet nur. Besonders in erbrechtlichen Angelegenheiten – insbesondere bei Pflichtteilsergänzung wegen Schenkungen – gilt: Erst prüfen, dann rechnen, dann handeln. Ohne belastbare Bewertung und genaue Abschmelzungsprüfung wird sonst ohne Not gestirtten.
Last modified: 11. Oktober 2025