Als ich auf diese Entscheidung aufmerksam wurde, habe ich erst einmal in den Kalender geschaut und mich gefragt, ob der 1. April ist, weil ich nicht glauben konnte, dass die Geschichte wahr war. Es war aber nicht der 1. April, es war der 27. November 2025 und das, was geschildert wurde, hat sich der Entscheidung nach wirklich so ereignet: ein echter Tiefpunkt deutscher Rechtsprechung, ein Stück aus dem Tollhaus.
1. Kurzüberblick
Das Finanzgericht (FG) Sachsen-Anhalt in der Bauhausstadt Dessau – Roßlau hatte über ein Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit eines Richters zu entscheiden. In einer mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht soll der Richter u.a. geäußert haben, die Kläger seien „vor ihrem Anwalt zu schützen“. Außerdem fertigte er kein Protokoll der Verhandlung und äußerte sich nicht dienstlich zum Ablehnungsgesuch.
Das Gericht erklärte das gegen den Richter angebrachte Ablehnungsgesuch für begründet.
Für die Praxis ist das gleich in mehrfacher Hinsicht interessant:
- Die Entscheidung markiert deutlich, wo die rote Linie richterlicher „Deutlichkeit“ überschritten ist.
- Sie betont die Schutzfunktion des Befangenheitsrechts für Partei und Anwalt.
- Sie erinnert an die strikte Protokollpflicht im finanzgerichtlichen Verfahren.
2. Der Sachverhalt in Kürze
Die Kläger hatten beim Finanzgericht Sachsen-Anhalt Klage gegen Einkommensteuerfestsetzungen erhoben. Der Fall war auf einen Einzelrichter übertragen worden. Für den 22. Mai 2025 war eine mündliche Verhandlung anberaumt. Ein Verhandlungsprotokoll fand sich später nicht in der Akte.
Nach der Schilderung der Kläger soll der Richter in der Verhandlung unter anderem erklärt haben, die Kläger seien „vor ihrem Anwalt zu schützen“.
Weiter soll der Richter nach der Darstellung im Schriftsatz der Kläger vom 28. Mai 2025 in der mündlichen Verhandlung die Prozessvollmacht der Prozessbevollmächtigten und die Existenz der Sozietät in Anwesenheit der Vollmachtgeber – der Kläger – in Frage gestellt hat.
Die Kläger brachten daraufhin ein Ablehnungsgesuch gegen den Richter an. Ein ordnungsgemäßes Protokoll der Verhandlung war in der Akte ebenso wenig vorhanden wie zunächst eine dienstliche Stellungnahme des abgelehnten Richters.
Der betroffene Richter am Finanzgericht wurde mit Verfügung vom 16. Juni 2025 aufgefordert, sich zu dem angebrachten Ablehnungsgesuch bis zum 18. Juli 2025 dienstlich zu äußern. Eine dienstliche Äußerung liegt nicht vor. Der Mitarbeiterin der Serviceeinheit des zuständigen 5. Senates erteilte der abgelehnte Richter auf deren Nachfrage nach dem Protokoll die Auskunft, dass er wegen des Ablehnungsgesuches kein Protokoll erstellen müsse. Am 21. August 2025 gegen 13 Uhr zeigte der Richter per E-Mail an, dass er mit der Erstellung seiner dienstlichen Äußerung beginne.
Der 5. Senat (in anderer Besetzung) des Finanzgericht hatte nun darüber zu entscheiden, ob diese Vorgänge aus Sicht eines objektiven Beteiligten geeignet sind, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen.
Dabei wartete der Senat den Eingang der am 16. Juni 2025 erbetenen Stellungnahme nicht erst ab, sondern entschied am 25. August 2025 über den Befangenheitsantrag.
3. Die Entscheidung des FG Sachsen-Anhalt
3.1 Rechtlicher Rahmen: § 51 FGO i.V.m. § 42 Abs. 2 ZPO
Nach § 51 Abs. 1 S. 1 FGO gelten für Ausschließung und Ablehnung von Gerichtspersonen die §§ 41 bis 49 ZPO sinngemäß.
Kernnorm ist § 42 Abs. 2 ZPO:
Wegen Besorgnis der Befangenheit findet die Ablehnung statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen.
Es kommt also nicht darauf an, ob der Richter tatsächlich befangen ist oder sich selbst für befangen hält. Entscheidend ist, ob ein vernünftiger Beteiligter bei objektiver Betrachtung Anlass hat, die Neutralität des Richters zu bezweifeln. Das ist ständige Rechtsprechung von BFH, BGH und anderen Gerichten.
Über das Ablehnungsgesuch entscheidet – wie üblich – das Gericht ohne Mitwirkung des abgelehnten Richters, nach vorheriger dienstlicher Äußerung (§ 51 Abs. 1 FGO i.V.m. § 44 Abs. 3, § 45 ZPO).
3.2 Die Schlüsselaussage des Richters
Im Mittelpunkt steht die Äußerung:
„Die Kläger sind vor ihrem Anwalt zu schützen.“
Nach dem veröffentlichten Leitsatz sieht das Finanzgericht in dieser Aussage einen eigenständigen, tragenden Befangenheitsgrund. Die Wendung legt nahe, der Richter halte den eigenen Anwalt der Kläger für eine Gefahr – jedenfalls nicht für eine Hilfe – für deren rechtliche Interessen.
Damit verbindet sich aus Sicht des objektiven Beteiligten eine Reihe von Befürchtungen:
- Der Richter begegnet Erklärungen und Anträgen des Bevollmächtigten von vornherein misstrauisch.
- Er misst Äußerungen des Anwalts weniger Gewicht bei als Erklärungen der Partei.
- Er könnte geneigt sein, nicht die Rechtsposition der Kläger, sondern eine vermeintliche „Schutzfunktion“ gegenüber ihrem eigenen Vertreter in den Vordergrund zu stellen.
Kurz gesagt: Wer meint, er müsse die Partei „vor ihrem Anwalt schützen“, signalisiert, dass er dem Anwalt kein faires Gehör schenkt. Das genügt, um einen objektiven Eindruck der Voreingenommenheit zu begründen. Nemo iudex in causa sua – und auch nicht im (vermeintlichen) Erziehungsstreit zwischen Partei und ihrem Bevollmächtigten.
3.3. Weitere erschwerende Umstände
Der Leitsatz betont, dass die Befangenheit „umso mehr“ zu bejahen ist, wenn weitere Umstände hinzutreten. Genannt werden insbesondere:
- Der Richter stellte in Anwesenheit der Kläger die Prozessvollmacht des Anwalts in Frage.
- Er äußerte Zweifel an der Existenz der Sozietät, der der Prozessvertreter angehörte.
- Er hatte kein Protokoll über die mündliche Verhandlung gefertigt.
- Er hatte sich zunächst nicht dienstlich zum Ablehnungsgesuch geäußert.
Gerade die Infragestellung der Vollmacht und der Sozietät vor den Mandanten ist hochbrisant: Sie zielt unmittelbar auf die berufliche Integrität des Vertreters. Aus Sicht eines objektiven Klägers liegt es nahe zu befürchten, dass der Richter dem Anwalt nicht auf Augenhöhe gegenübersteht, sondern ihn als Problem sieht.
Hinzu tritt die unterbliebene Protokollierung, obwohl § 94 FGO i.V.m. §§ 159 ff. ZPO ein Protokoll der mündlichen Verhandlung zwingend vorsieht.
3.4 Protokollpflicht trotz Ablehnungsgesuch
Besonders praxisrelevant ist der zweite Leitsatz:
Die Tatsache, dass die Kläger in der Verhandlung bereits ein Ablehnungsgesuch angebracht haben sollen, entbindet den Richter nicht von seiner Protokollpflicht. Auch bei (vermeintlich) „gestörter“ Verhandlung muss ein Protokoll gefertigt werden.
Ein fehlendes Protokoll erschwert nicht nur die spätere Aufklärung des Ablaufs. Es kann – wie hier – zusätzlich den Eindruck verstärken, der Richter gehe mit verfahrensrechtlichen Pflichten selektiv um. Das fließt in die Befangenheitsprüfung ein.
Der Senat kommt daher – wenig überraschend – zu dem Ergebnis:
Das Ablehnungsgesuch ist begründet; der Richter wird wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt.
4. Einordnung und Konturen des Befangenheitsmaßstabs
Die Entscheidung fügt sich in die Linie der Rechtsprechung zur Besorgnis der Befangenheit ein, schärft aber die Konturen dort, wo es um abwertende Äußerungen über Prozessbevollmächtigte geht.
Klar ist:
- Richter dürfen und müssen kritische Nachfragen stellen, prozessuale Versäumnisse ansprechen, unklare Anträge zurückweisen.
- Sie dürfen auch deutlich machen, wenn sie bestimmte prozessuale Vorgehensweisen für untauglich oder unprofessionell halten.
Die Grenze ist aber überschritten, wenn sich die Kritik vom konkreten Verhalten löst und den Vertreter als Person und seine Kanzlei generell diskreditiert – erst recht vor der Partei.
Mit anderen Worten:
„Ihre Rüge ist unbegründet“ ist zulässige richterliche Bewertung.
„Die Kläger sind vor ihrem Anwalt zu schützen“ ist ein persönliches Verdikt – und damit unzulässig.
Die Entscheidung steht damit im Einklang mit der BFH-Rechtsprechung, wonach es genügt, wenn der Beteiligte bei vernünftiger Würdigung Anlass hat, die Neutralität zu bezweifeln; ein Nachweis tatsächlicher Voreingenommenheit ist nicht erforderlich.
5. Praxisfolgen – „Best Practice“ für Anwälte und Richter
5.1 Für Prozessvertreter: Wann und wie reagiere ich?
Aus anwaltlicher Sicht liefert der Beschluss mehrere konkrete Hinweise:
- Grenzüberschreitende Äußerungen nicht hinnehmen, sondern dokumentieren
- Sofortige Notiz im Handaktenvermerk (Zeit, Wortlaut so genau wie möglich, Reaktionen).
- Nach Möglichkeit auf Protokollierung drängen (§ 160 ZPO).
- Zeugen sichern
- Fristen für das Ablehnungsgesuch beachten
- Nach § 51 Abs. 1 FGO i.V.m. § 44, 46 ZPO ist das Gesuch unverzüglich anzubringen, sobald der Ablehnungsgrund bekannt ist.
- Zu langes Zuwarten führt schnell zur Unzulässigkeit.
- Sachlich bleiben, objektiven Maßstab anlegen
- Im Gesuch sollte nicht „Empörung“ dokumentiert werden, sondern ein ruhiger, protokollhafter Sachvortrag:
- Konkrete Äußerungen,
- konkreter Kontext,
- warum dies aus Sicht eines objektiven Klägers Misstrauen rechtfertigt.
- Im Gesuch sollte nicht „Empörung“ dokumentiert werden, sondern ein ruhiger, protokollhafter Sachvortrag:
- Protokollpflicht thematisieren
- Fehlt ein Protokoll oder ist es unvollständig, sollte dies ausdrücklich gerügt und – wenn es in den Kontext passt – in die Begründung des Ablehnungsgesuchs integrieret werden (Verstoß gegen § 94 FGO i.V.m. §§ 159 ff. ZPO).
Die vorliegende Entscheidung zeigt: Gut dokumentierte Vorgänge haben eine hohe Überzeugungskraft. Das Gericht ist erkennbar auf den objektiven Gesamtbefund abgestellt – nicht auf subjektives Empfinden.
5.2 Für Richter: Sprache als Risikoquelle
Für Richter ist der Fall ein Lehrstück dafür, dass Sprache selbst Befangenheitsgründe schaffen kann. Weiter ist die Entscheidung Anlass zur Selbstreflektion. Wir erleben Richter nicht selten schlecht vorbereitet und ungehalten, wenn wir über Rechtsauffassungen sprechen wollen und auf den Akteninhalt verweisen.
Ein paar Leitlinien:
- Kritik immer an konkreten Handlungen, nicht an der Person des Vertreters oder an der Kanzlei festmachen.
- Äußerungen, die die Partei „vor ihrem Anwalt“ oder „vor dessen Ratschlägen“ bewahren wollen, sind no go. Solche Richter können gerne Anwalt werden, wenn sie es besser wissen.
- Protokollpflichten sind strikt einzuhalten – gerade in kritischen Situationen; das Protokoll ist objektives Gedächtnis des Verfahrens.
In der Summe gilt: Justice must not only be done, but must also be seen to be done. Wer dem eigenen Protokoll ausweicht und gleichzeitig den Anwalt vor den Augen der Mandanten diskreditiert, verspielt dieses Vertrauen.
6. Fazit
Der Beschluss des FG Sachsen-Anhalt (5 K 342/19) ist mehr als eine „bunte“ Anekdote aus dem Gerichtssaal. Er schärft gleich mehrere Linien:
- Deutliche Grenze zwischen zulässiger richterlicher Kritik und persönlich-abwertenden Bemerkungen über Prozessvertreter.
- Bestätigung des weiten Schutzbereichs des Befangenheitsrechts zugunsten von Parteien und ihrer Anwälte.
- Betonung der Protokollpflicht als verfahrensrechtliches Fundament, das gerade in kritischen Situationen nicht aufgeweicht werden darf.
Für Berater im steuerlichen Finanzgerichtsverfahren bedeutet das:
- Entgleiste Äußerungen sollten nicht „geschluckt“, sondern sauber dokumentiert und – wo geboten – mit einem sachlich formulierten Ablehnungsgesuch beantwortet werden.
- Zugleich ist die Entscheidung ein starkes Argument in der forensischen Praxis, wenn Gerichte allzu nonchalant mit Anträgen auf Protokollierung oder mit der eigenen Dokumentationspflicht umgehen.
Erfreulich: der konsequente Umgang des 5. Senates mit dem Richterkollegen.
Last modified: 27. November 2025