Von 13:30 Steuerrecht, Was uns an der Finanzgerichtsbarkeit wundert

BFH vom 09. September 2025: Steuerberatungskosten, die für die Ermittlung des Gewinns aus der Veräußerung einer Kapitalgesellschafts-beteiligung im Zusammenhang mit der Erstellung der Steuererklärung anfallen, stellen keine Veräußerungskosten im Sinne von § 17 Abs. 2 Satz 1 EStG dar. Verstoß gegen das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit?

Mit Urteil vom 09. September 2025, IX R 12/24 https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE202520341/ wird eine reale wirtschaftlicher Belastung im Zusammenhang mit steuerlich relevanten Einkünften
(§ 17 EStG) nicht oder nur eingeschränkt anerkannt.

Im Ergebnis führt die Entscheidung dazu, dass Steuerpflichtige höher belastet werden, als es ihrer tatsächlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entspricht. Und genau hier beginnt das Problem: Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist nicht bloß ein hübscher programmatischer Leitsatz, sondern verfassungsrechtlicher Maßstab für das Einkommensteuerrecht. Wenn der BFH sich davon sichtbar entfernt, lohnt der Widerspruch.

1. Worum geht es im Kern?

Der konkrete Streitfall lässt sich – stark verkürzt – so beschreiben:

Die Kläger hatten Steuerberatungskosten für die Ermittlung des Gewinns aus der Veräußerung einer im Privatvermögen gehaltenen Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft als Veräußerungskosten bei der Ermittlung des Veräußerungsgewinns nach § 17 Abs. 2 S. 1 EStG steuermindernd angesetzt. Das beklagte Finanzamt erkannte die Steuerberatungskosten bei der Ermittlung des Veräußerungsgewinnes nicht an.

Das dagegen geführte Einspruchsverfahren blieb ohne Erfolg.
Das Finanzgericht gab der Klage statt.
Auf die Revision des Finanzamts hob der Bundesfinanzhof das Urteil des Finanzgerichts auf und wies die Klage ab.

Der Bundesfinanzhof begründet seine Entscheidung im wesentlichen damit, dass Veräußerungskosten nur die Kosten seien, die durch die Veräußerung veranlasst. Auch mittelbar durch die Veräußerung entstandene Aufwendungen könnten unter den Begriff der Veräußerungskosten fallen, soweit sie bei wertender Betrachtung ihr auslösendes Moment in der Veräußerung haben.

Der Bundesfinanzhof folgte der Auffassung des Finanzgerichts, auslösendes Moment für die Entstehung der Steuerberatungskosten sei der Veräußerungsvorgang selbst, nicht. Der Bundesfinanzhof kommt vielmehr zu folgender Auffassung:

Die Feststellung der Vorinstanz, auslösendes Moment für die Entstehung der streitgegenständlichen Steuerberatungskosten sei der Veräußerungsvorgang selbst, widerspricht jedoch den dargestellten Anforderungen. Denn diese Aufwendungen sind Folge der sachlichen Steuerpflicht der Veräußerung und dem hierauf beruhenden Entschluss der Kläger, für die Erfüllung ihrer steuerlichen Erklärungspflichten einen Steuerberater zu beauftragen (vgl. auch Senatsurteil vom 09.10.2013 – IX R 25/12, BFHE 242, 513, BStBl II 2014, 102, Rz 12). Das FG hat unzutreffend darauf abgestellt, dass bereits vor einer Veräußerung eine abstrakt bestehende steuerliche Pflicht zur Erklärung eines später gegebenenfalls vorliegenden Veräußerungsgewinns bestünde, welche sich durch die Veräußerung konkretisiere. Hieraus folgt insbesondere nicht, dass die Erklärungspflicht als auslösendes Moment hinter den Veräußerungsvorgang zurücktritt.“

Der vom Bundesfinanzhof herausgearbeitete Unterschied führt im Ergebnis dazu, dass Steuerberatungskosten, die im Zusammenhang mit steuerlich relevanten Einkünften entstanden sind, steuerrechtlich nicht abzugsfähig sind.

Wir meinen, dass der BFH dabei übersieht, dass die so gewonnene Lösung mit dem Grundanliegen des Einkommensteuerrechts kollidiert: Wer objektiv weniger leistungsfähig ist, soll nicht so besteuert werden, als stünde ihm diese Leistungsfähigkeit weiterhin ungeschmälert zur Verfügung.

2. Das Leistungsfähigkeitsprinzip – mehr als Dekoration

Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist im deutschen Steuerrecht kein „nice to have“, sondern abgeleitete Leitlinie aus Art. 3 Abs. 1 GG:

  • Gleichheit im Steuerrecht bedeutet Lastengleichheit nach Maßgabe der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.
  • Einkommensteuer und Erbschaftsteuer sind keine Strafsteuern, sondern sollen die finanzielle Mitwirkung des Bürgers entsprechend seiner Leistungsfähigkeit sicherstellen.

Das Bundesverfassungsgericht hat immer wieder betont, dass der Gesetzgeber bei der Gestaltung von Steuerlasten zwar typisieren und pauschalieren darf, dass diese Typisierung aber sachgerecht sein muss und nicht evident an der Realität vorbeigehen darf.

Steuerrechtliche Fiktionen und Formalismen haben daher Grenzen. Spätestens dort, wo der Steuerpflichtige belastet wird, als seien Vermögenspositionen oder Einkünfte vorhanden, die tatsächlich nicht (mehr) existieren oder wirtschaftlich nicht zur Verfügung stehen, beginnt der Konflikt mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip.

Genau an dieser Schwelle sehe ich die fragliche BFH-Entscheidung.

3. Was der BFH macht – und warum das dogmatisch schief ist

Die Entscheidung folgt – soweit ersichtlich – einem bekannten Muster der BFH-Rechtsprechung:

  1. Formal strenge Tatbestandsauslegung
    Zunächst wird der einschlägige Normtatbestand sehr eng gelesen. Bestimmte Formen wirtschaftlicher Belastung fallen aus formalen Gründen heraus („das ist eben kein … im Sinne des Gesetzes“), obwohl sie wirtschaftlich denselben Effekt haben wie anerkannte Tatbestände.
  2. Selektive Anerkennung von Aufwendungen/Verlusten
    Nur bestimmte Verluste oder Aufwendungen werden als abzugsfähig anerkannt. Andere – wirtschaftlich gleichartige – werden als „privat“, „nicht erfasst“ oder aus dogmatischen Gründen als systemwidrig ausgegrenzt.
  3. Verweis auf Gesetzgeber / Typisierung
    Am Ende verweist der BFH darauf, dass der Gesetzgeber typisieren dürfe und dass es „hinzunehmen“ sei, wenn bestimmte Härten auftreten. Die Frage, ob hier noch von typisierter Gerechtigkeit oder schon von verfassungsrechtlich relevanter Übermaßbelastung zu sprechen ist, stellt der Senat nicht ernsthaft.

Das Ergebnis:
Die steuerliche Bemessungsgrundlage orientiert sich nicht mehr am Netto-Zuwachs an Leistungsfähigkeit, sondern an einem normativ konstruierten Brutto-Begriff, der tatsächliche wirtschaftliche Einbußen schlicht wegdefiniert.

Man kann das machen – aber man darf dann nicht behaupten, man bewege sich noch treu im Fahrwasser des Leistungsfähigkeitsprinzips.

4. Warum das mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip kollidiert

Die Kritik lässt sich in drei Punkten bündeln:

4.1 Ignorierte Entreicherung

Die Entscheidung blendet aus, dass der Steuerpflichtige real entreichert ist.

Wer einen Vermögensgegenstand verliert, wer dauerhaft nicht disponieren kann, wer faktisch wirtschaftlich belastet ist, hat eben weniger Steuerleistungspotential. Wird trotzdem so getan, als sei die ursprüngliche Leistungsfähigkeit ungeschmälert vorhanden, ist das kein „kleiner Härtefall“, sondern Systembruch.

4.2 Ungleichbehandlung wirtschaftlich vergleichbarer Fälle

Noch deutlicher wird es im Vergleich:

  • Steuerpflichtiger A erleidet einen Verlust, der ausnahmsweise in der Systematik anerkannt ist → steuerlich voll berücksichtigter Leistungsabfall.
  • Steuerpflichtiger B erleidet ökonomisch denselben Verlust, der wegen einer formalen Abgrenzung nicht erfasst wird → steuerlich so behandelt, als sei nichts passiert.

Gleiches wird ungleich behandelt – nur weil der BFH an formal-systematischen Trennlinien festhält, die mit der ökonomischen Realität wenig zu tun haben. Das ist mit Art. 3 Abs. 1 GG und dem darin konkretisierten Leistungsfähigkeitsprinzip nur schwer vereinbar.

4.3 Überdehnung des Typisierungsspielraums

Natürlich darf der Gesetzgeber typisieren und pauschalieren. Aber:

  • Eine Typisierung darf nicht dazu führen, dass ganze Gruppen von Steuerpflichtigen dauerhaft erheblich überbesteuert werden.
  • Je weiter die steuerliche Bemessungsgrundlage sich von der tatsächlichen Leistungsfähigkeit entfernt, desto enger werden die verfassungsrechtlichen Spielräume.

Die fragliche BFH-Entscheidung schützt die gesetzliche Typisierung, ohne zu fragen, ob die Grenze zur evidenten Unangemessenheit bereits überschritten ist.

Wohlgemerkt: Der BFH muss nicht an die Stelle des Gesetzgebers treten. Aber er darf auch nicht die Augen davor verschließen, dass bestimmte Lesarten des Gesetzes im Ergebnis verfassungsrechtlich zweifelhaft sind.

5. Was heißt das für die Beratungspraxis?

Für Berater und Mandanten hat die Entscheidung zwei Ebenen:

5.1 Kurzfristig: Gestalten im Schatten des BFH

  • De facto ist die Entscheidung zu beachten. Wer sich offen gegen sie stellt, provoziert Streit mit der Finanzverwaltung.
  • Gestaltungen müssen deshalb so angelegt sein, dass sie – soweit möglich – in durch den BFH anerkannte Kategorien fallen.
  • Wo das nicht gelingt, sollte die abweichende Auffassung explizit dokumentiert werden (Einspruch, Antrag auf Aussetzung der Vollziehung, verfassungsrechtliche Argumentation), um den Streit fachlich sauber zu führen und ggf. offen zu halten.

5.2 Mittelfristig: Verfassungsrechtliche Flankierung

Wenn sich zeigt, dass eine wachsende Zahl von Fällen durch diese BFH-Linie strukturell überbesteuert wird, ist der Weg zum Bundesverfassungsgericht nicht fern:

  • Entweder über konkrete Normenkontrollen (Vorlage durch Fachgerichte),
  • oder über Verfassungsbeschwerden in Konstellationen, in denen die Abweichung zwischen nomineller Steuerbemessungsgrundlage und realer Leistungsfähigkeit besonders krass ausfällt.

Berater sollten ihre Fälle daher sorgfältig dokumentieren und in geeigneten Konstellationen bewusst „auf Angriff“ spielen: Nicht aus Querulantentum, sondern um den verfassungsrechtlichen Korrekturmechanismus überhaupt zu aktivieren.

6. Fazit: Form vor Inhalt – ein gefährlicher Weg

Die hier besprochene BFH-Entscheidung ist mit guten Gründen angreifbar.

Sie ist aus der Binnenlogik des Gesetzes erklärbar, aber sie verfehlt den Sinn des Einkommensteuerrechts: die Besteuerung nach der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.

Wo die Rechtsprechung:

  • reale Entreicherung ignoriert,
  • wirtschaftlich gleiche Fälle ungleich behandelt und
  • sich hinter abstrakten Typisierungsargumenten verschanzt,

läuft sie Gefahr, die verfassungsrechtlichen Leitplanken aus Art. 3 Abs. 1 GG aus dem Blick zu verlieren.

Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist kein bloßer Schönheitsfehler des Systems, den man nach Belieben übergehen darf. Es ist der Maßstab. Wenn der BFH davon abweicht, darf – und muss – man ihn daran erinnern.

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Last modified: 5. Dezember 2025

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