Jaja, so ist das mit den Juristen und den Fristen: auf der einen Seite billigen die Gerichte Anwälten ausdrücklich zu, die Frist bis zur letzten Sekunde auszureizen (wozu sind Fristen auch sonst geschaffen?), auf der anderen Seite werden die Damen und Herren Richter schnell schmallippig, wenn es nach Fristversäumnissen um Wiedereinsetzung geht.
Der beste Rat ist wie immer der einfachste: die Fristsachen ausreichende Zeit vor Fristablauf erledigen. Das aber nützt nichts, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist.
In dem vom BGH am 5. September 2012 (VII ZB 25/12, NJW 2012, 3516) entschiedenen Sachverhalt hatte der Kläger am letzten Tag der Frist etliche Male – vergeblich – per Telefax versucht, dem Berufungsgericht einen Antrag auf Verlängerung der Berufungsfrist zuzusenden. Den Antrag auf Wiedereinsetzung wies der BGH zurück. In wohlgesetzten Worten ließ der den Kläger wissen, dass er aus dem Internet eine weitere Telefaxnummer des Berufungsgerichts „in Erfahrung bringen und den Verlängerungsantrag an dieses Empfangsgerät hätte senden können“.
Das wird dem Kläger, der mit seinen vielen Versuchen ja schon gemeint hatte, alles zur Einhaltung der Frist notwendige getan zu haben, sicher nachhaltig die Sprache verschlagen haben, zumal in der Entscheidung des BGH nicht erwähnt wird, ob denn das vergeblich versandte Telefax des Klägers von diesem anderen „Empfangsgerät“ empfangen worden wäre.
Es ist zu bedauern, dass es den Gerichten nach unserer Einschätzung häufig am Verständnis dafür fehlt, unter welch enormem Druck Anwälte arbeiten. Die Realität der Anwälte ist weit entfernt von Liebling Kreuzberg oder sonstigen „Gestalten“, die zudem weiß Gott kein Aushängeschild für die Anwaltschaft sind. Ich möchte jedenfalls mit solchen Witzfiguren eben so wenig in einen Topf gesteckt werden wie mit Richterin Salesch oder den Anwälten im Tatort, die nicht so sehr als Organ der Rechtspflege, sondern bestenfalls als Rechtsverdreher, im schlimmsten Fall als Mittäter oder gar Anstifter dargestellt werden. Arbeitszeiten von 60 Stunden und mehr sind kein „Privileg“ der Großkanzleien. Das gleiche gilt für die Flut an E-Mails, Telefaxen und der schönen alten Papierpost.
Wer diese Welt nicht kennt, dem fällt es einfach, mit Abstand betrachtet einem Anwalt zu sagen, was er – ganz einfach – nur hätte machen müssen. Das ist wie bei Fußball: die Väter können vom Spielfeldrand die besten Tore schießen, und auch vom Sofa aus ist die Lage deutlich entspannter als auf dem Platz.
Und einen Punkt blendet der BGH völlig aus: Die Weigerung, die Justiz mit heute technisch selbstverständlichen Einrichtungen wie z.B. dem EGVP zu versorgen, wird so auf dem Rücken der Anwaltschaft ausgetragen. Eine Übermittlung per EGVP wäre sicher geglückt, würde denn das Berufungsgericht an dem Verfahren teilgenommen haben. Und da sieht es in der Tat sehr mau aus.
Der Vorteil des EGVP auch in diesem Fall liegt klar auf der Hand. Per EGVP können mehrere Anwälte Dokumente gleichzeitig an ein Gericht senden. Das ist sicher banal, aber ein wichtiger Unterschied zum guten alten Telefax. Wenn eine anderer sendet, ist das Gerät „besetzt“. Das kommt mir in einem Zeitalter, in dem man E-Mails – nicht erst seit ein paar Jahren – in Sekundenschnelle von Kontinent zu Kontinent senden kann, geradezu vorsintflutlich vor. Es erinnert an die alte „Amtsstube“ und den aufmunternden Ausruf eines seit Jahren auf die Pensionierung wartenden Beamten: „der Nächste bitte“ oder, auch nicht selten, die zeitungslesende Variante dieser Spezies: „warten Sie bitte noch draußen, bis sie gerufen werden“.
So etwa stelle ich mir die Situation vor, der der arme Kollege zum Opfer fiel. Denn damit ist die Geschichte ja nicht zu Ende. Der Mandant wird den Kollegen wegen der vom BGH festgestellten Pflichtverletzung sicher in Anspruch nehmen. Auch das kümmert Richter eher wenig.
In einem schon geradezu bizarren Kontrast dazu steht die Entscheidung des BGH vom 19. April 2012 (IX ZB 303/11, NJW 2012, 2117). In dieser Entscheidung hatte ein Kollege das EB zu einer Entscheidung, die die andere Seite am 3. Juni 2011 erhalten hatte, erst mit Datum 30. Juni 2011 an das Gericht zurück gesandt. Entsprechend entschied der BGH, dass die Berufung, um die es hier ging, zulässig war. Ganz erstaunlich, wie hoch der BGH hier die Anwaltschaft hängt. Aus der Entscheidung zitieren wir wörtlich:
„6] a) Die Zustellung gegen Empfangsbekenntnis ist dann als bewirkt anzusehen, wenn der Rechtsanwalt das ihm zugestellte Schriftstück mit dem Willen entgegengenommen hat, es als zugestellt gegen sich gelten zu lassen, und dies auch durch Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses beurkundet. Zustellungsdatum ist also der Tag, an dem der Rechtsanwalt als Zustellungsadressat vom Zugang des übermittelten Schriftstücks Kenntnis erlangt und es empfangsbereit entgegengenommen hat. Ein derartiges Empfangsbekenntnis erbringt als Privaturkunde i. S. von § ZPO § 416ZPO (BGH, NJW1990, NJW Jahr 1990 Seite 2125) grundsätzlich Beweis nicht nur für die Entgegennahme des darin bezeichneten Schriftstücks als zugestellt, sondern auch für den Zeitpunkt der Entgegennahme durch den Unterzeichner und damit der Zustellung“.
Sogar Unordnung im Büro des Anwalts wird nicht gerügt, im Gegenteil: sie wird belohnt, wenn der BGH ausführt:
„Außerdem kann dem Bevollmächtigten der Kl. das Urteil aus verschiedensten Gründen infolge eines kanzleiinternen Versehens nicht im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Eingang vorgelegt worden sein.“
„Ferner kann das Urteil auf Grund von Nachforschungen innerhalb der Kanzlei des Bevollmächtigten der Kl. aufgefunden worden sein.“
Das ist ja schon eine tolle Büroorganisation. Denn wenn „Nachforschungen“ in einem Büro dazu führen, dass Urteile aufgefunden werden, dann müssen die Urteile ja vorher verschwunden sein! Mit einer solchen Büroorganisation mehr Nachsicht zu haben als mit dem Kollegen, der verzweifelt versucht, ein Telefax zu senden und am Empfangsgerät des Gerichts scheitert, ist mir nicht verständlich. Die Entscheidung hat einen weiteren Nachteil: sie ermuntert geradezu die Kollegen, die schon immer die EBs nicht oder viel zu spät zurückreichen, ihr Treiben fortzusetzen.